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Die verlorene Ehre der Katharina Blum: Gewalt beginnt mit der Sprache

Aus Anlass des 50. Jahrestags von Heinrich Bölls Erzählung und Film Die verlorene Ehre der Katharina Blum – erschienen mitten in der Hochzeit des RAF-Terrorismus 1975 – erörtert Maria Birger von der Heinrich-Böll-Stiftung im Podcast Conny&Kurt die Aktualität des Werkes. Die Sprachwissenschaftlerin unterstreicht die bedenkliche Aktualität dieses Schlüsselwerks zur Kritik des Boulevardjournalismus. Das Werk schildert, wie Katharina Blum, eine „sehr brave“ und „angepasste“ junge Frau, innerhalb weniger Karnevalstage zur Mörderin wird, nicht zuletzt durch die Kampagnen der Presse.

Bölls tiefe Auseinandersetzung war durch seine persönlichen Erfahrungen motiviert: Er und seine Familie waren in den 70er Jahren massiver Diffamierung ausgesetzt und mussten fünf unbegründete Hausdurchsuchungen erleben, wobei die Springerpresse ihn als „Sympathisanten“ von Terroristen kriminalisierte. Bölls zentrale These, die er zeitlebens vertrat, bleibt unerschütterlich: „Gewalt beginnt mit der Sprache“.

Diese sprachliche und „strukturelle Gewalt“ manifestierte sich in den 1970er Jahren in übergriffigen Verhören und der sensationslüsternen Berichterstattung, wobei Böll stets darauf beharrte, dass das Grundgesetz für alle gelte. Er betonte, dass die Pressefreiheit ihre Grenzen explizit im „Recht der persönlichen Ehre“ (Art. 5 GG) finde.

Experten sehen heute eine Übertragung dieser Mechanismen in die digitale Ära: Durch die sozialen Medien „könnte heute jeder Katharina Blum sein“, so Birger, da die ungefilterte Verbreitung von Inhalten und Desinformation Diffamierungskampagnen beschleunigt, wie sie etwa beim Bashing gegen die Grünen oder in der Rhetorik der AfD sichtbar werden. Diese Entwicklung führt zu einem „Tsunami“ sprachlicher Gewalt, dem die Gerichtsbarkeit zeitlich kaum gewachsen ist. Bölls Plädoyer für Gewaltfreiheit und seine Forderung nach dem Schutz der Persönlichkeit bleiben somit zentrale demokratische Prüfsteine

Zur Person: Maria Birger geboren 1983 in Moskau, ist Tochter des Künstlers und Dissidenten Boris Birger. Sie studierte zunächst bei ihm zehn Jahre Kunst und Kunstgeschichte und nach dem Abitur Geschichte und Russische Literatur in Köln. Sie promoviert an der Humboldt-Universität Berlin zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen im Kalten Krieg mit den Schwerpunkten Dissidenz in der Sowjetunion und politische Kultur in der Bundesrepublik. Sie arbeitet als Referentin Leben und Werk Heinrich Böll in der Heinrich-Böll-Stiftung e. V. und ist im Beirat des Lew Kopelew Forums e. V. (Köln) sowie im Vorstand der Marion Dönhoff-Stiftung (Hamburg) tätig.

Inklusion in Veranstaltungshallen – nicht einfach, aber machbar


Die Forderung nach Inklusion ist in dem 60 Jahre alten Gebäude nicht einfach umzusetzen. Im Podcast Conny&Kurt erläutert Philip Rothländer, Geschäftsführer der Wunderino Arena in Kiel (ehemals Nordostseehalle), die Barrierefreiheit der Veranstaltungsstätte. Die Wunderino Arena bietet bis zu 10.000 Personen Platz. Ein zentrales Thema ist die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen, einschließlich blinder, gehörloser und mobilitätseingeschränkter Personen. Rothländer betont die bereits implementierten Maßnahmen, wie die Mindtext-App zur Navigation und das moderne Rask-System zur Entfluchtung mit visuellen und akustischen Signalen, die insbesondere für Gehörlose wichtig sind. Die Beteiligten erörtern die Herausforderungen in dem alten Gebäude, besonders die knappe Verfügbarkeit von Rollstuhlplätzen, die oft durch die Entscheidungen der Veranstalter limitiert wird.

Konzentration als Heilsbotschaft der Kirche

Schon lange reagieren die Kirchen auf den Mitgliederschwund. Zusammenarbeit der kleiner werdenden Gemeinden oder die Fusion scheinen das Mittel der Wahl. In der Nordkirche nennt man diese Art der Konzentration Region in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) Nachbarschaftsraum. Viele kleine Gemeinden sollen eine große bilden. Conny von Schumann erlebt als Kirchenvorsteher den Prozess – auch in seiner Widersprüchlichkeit – in seiner Gemeinde in Petterweil. Als Mitglied der Landessynode der EKHN hat er die Rahmenbedingungen mitbeschlossen. Kurt-Helmuth Eimuth steht dieser Entwicklung der Konzentration kritisch gegenüber. Alle zögen sich aus der Fläche zurück. Ob Einzelhandel oder Sparkasse, das Filialnetz werde ausgedünnt. Doch gerade Gemeinde brauche Räume der Begegnung, auch der spirituellen Begegnung. Die unmittelbare Nachbarschaft, also der Raum der fußläufig erreichbar ist, gewinne angesichts einer alternden Gesellschaft an Bedeutung.

Noah war der erste Weinbauer

Der Wein ist in der christlichen Tradition ein vielschichtiges Symbol: für Gemeinschaft, Dankbarkeit für die Schöpfung und notwendige Mäßigung, so das Fazit von Michael Finzer, Pfarrer im Ruhestand und versierter Weinkenner aus Zentralrheinhessen, im Podcast Conny & Kurt. Finzer verbindet die Welt des Weins tiefgründig mit der Theologie. „Ich bin Pfarrer im Ruhestand… und bin die letzten Jahre sehr stark in Richtung Wein unterwegs in drei Weinbruderschaften,“ erklärt er. Seine persönliche Beziehung zum Wein begann früh. Die Familie betrieb einen Nebenerwerbsbetrieb für Weinanbau.

Finzer, der seine umfassenden Erkenntnisse über den Wein in der Bibel in zwei Büchern publizierte, hebt die allgegenwärtige Präsenz des Weins in der Bibel hervor, von den Ursprüngen bei Noah bis zur Offenbarung des Johannes. Noah gilt als der erste Weinbauer der Bibel, dessen Geschichte jedoch auch von maßlosem Konsum erzählt: „Der erste Weinbauer laut Bibel ist halt Noah und das ist die Geschichte, als er zu viel getrunken hat und seine Söhne ihm helfen müssen“. In der Apokalypse, so Finzer, symbolisiert die „Zornkelter Gottes“ eine Vision der Umkehr göttlicher Rache in Gerechtigkeit, Frieden und neues Leben für die verfolgten Christen.

Im Abendmahl ist Wein ein zentrales Element, das die „solidarische Gemeinschaft“ der Jünger und Jüngerinnen und die Erinnerung an Jesu bevorstehende Kreuzigung verkörpert. „Eigentlich klassisch würde man mit Rotwein feiern, auch wegen der Blutweinsymbolik,“ erläutert Finzer. Heutzutage bieten Kirchengemeinden jedoch auch Traubensaft an, um Menschen mit Alkoholproblemen entgegenzukommen. Eine zentrale theologische Aussage findet sich in Jesu Selbstbeschreibung: „Ich bin der Weinstock ihr seid die Reben“.

Die Bibel warnt jedoch klar vor Maßlosigkeit. Finzer fasst die biblische Haltung so zusammen: „Zu viel ist nicht gut“. Es wird zu einem „maßvollen Genuss von Speisen und Getränken“ gemahnt.

Differenzfeminismus und die Fragilität der Demokratie:

Antje Schrupp erhält Luise-Büchner-Preis

In ihrem neuen Buch „Unter allen Umständen frei“ stellt Antje Schrupp drei revolutionäre Feministinnen vor, die zwischen 1870 und 1920 aktiv waren. Ein roter Faden durch das Werk ist die Figur Anthony Comstocks, eines ehemaligen Postinspektors, der sich im frühen 20. Jahrhundert der Bekämpfung von freier Liebe, Pornografie, Empfängnisverhütung, Abtreibung und geschlechtlicher Vielfalt verschrieben hatte. Comstocks Gesetze gegen den Versand „obszönen Materials“ seien heute noch in Kraft und würden in der Trump-Administration reaktiviert, um beispielsweise den Versand von Abtreibungsmedikamenten zu verhindern. Dies zeige exemplarisch, wie gesellschaftliche Errungenschaften, die als selbstverständlich galten, schnell wieder außer Kraft gesetzt werden können.

Die drei von Schrupp porträtierten Feministinnen – Victoria Woodhull, Lucy Parsons und Emma Goldman – vertraten sehr unterschiedliche Ansichten. Während Woodhull, die erste Präsidentschaftskandidatin, sich für das Wahlrecht einsetzte, kritisierten Parsons (eine aus der Sklaverei befreite Anarchistin) und Goldman (eine bekannte Anarchistin) das Wahlrecht scharf. Sie argumentierten, es sei nutzlos, solange die Gesellschaft durch Armut, Rassismus und Ausbeutung ungerecht bleibe und diene letztlich nur dazu, Unterdrückung zu legitimieren.

Die Luise Büchner-Gesellschaft „zeichnet mit dem Luise-Büchner-Preis 2025 eine engagierte Publizistin aus, die sich für das Begehren der Frauen einsetzt, historische Bezüge erläutert und zu aktuellen Themen klar Stellung bezieht.“, so die Begründung der Jury. Es wird hervorgehoben, dass für sie nicht die Gemeinsamkeit von Frauen, sondern gerade deren Verschiedenheit entscheidend ist. Sie versteht Feminismus nicht als Durchsetzung von „Fraueninteressen“, sondern als Plattform, um die vielfältigen und oft kontroversen Themen, die Frauen untereinander diskutieren, in den gesellschaftlichen Mittelpunkt zu rücken und ihnen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Feminismus sei nach Schrupps Überzeugung selbstverständlich weiterhin notwendig. Gleichberechtigung allein reiche nicht aus, da sie „kein Naturgesetz“ sei und schnell wieder verloren gehen könne, wie die aktuellen Entwicklungen in den USA zeigen. Es bedürfe eines kulturellen Wandels und einer Autorität für Frauen in dem, was sie sagen – etwas, das noch lange nicht gegeben sei. Auch in emanzipierten Gesellschaften gebe es noch offene Baustellen, wie das Abtreibungsverbot in einigen Ländern oder die ungeregelte Care-Arbeit, die überwiegend von Frauen unbezahlt geleistet wird und in der Volkswirtschaft kaum Berücksichtigung findet. Diese unbezahlte Arbeit sei jedoch fundamental für das Funktionieren der Gesellschaft und Wirtschaft.

Schrupp zieht Parallelen zwischen diesem „Goldenen Zeitalter“ vor dem Ersten Weltkrieg in den USA und der heutigen Situation. Damals wie heute seien ungezügelter Kapitalismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit prägend gewesen. Die Geschichte der sozialen Kämpfe in dieser Zeit sei nicht von stetigem Fortschritt geprägt gewesen, sondern von einem permanent schlechter werdenden Zustand, gegen den die Menschen ankämpfen mussten. Die Autorin warnt davor, die Nachhaltigkeit unserer Demokratie zu überschätzen und sich auf formale Gleichheit zu verlassen. Die zunehmende politische Macht sehr reicher Individuen und globalisierter Unternehmen in den USA erinnere an die „Trusts“ der damaligen Zeit und stelle die Neutralität des Staates in Frage.

Angesichts der systematisch geplanten „Kulturrevolution“ in den USA und des Erstarkens antifeministischer und antidemokratischer Bewegungen weltweit – von Russland über die Türkei bis hin zu nationalistischen Tendenzen in Europa – sei die Frage berechtigt, ob wir „ein bisschen zu wenig revolutionär“ gewesen seien. Die These, dass das, was Frauen in den letzten 100 Jahren ins Rollen gebracht haben, nicht mehr zurückzudrehen sei, teilt Schrupp zwar im Grundsatz, jedoch warnt sie vor Selbstzufriedenheit. Das Vertrauen in einen neutralen und gerechten Staat stehe auf dem Prüfstand, insbesondere wenn sich der Kipppunkt der Funktionsfähigkeit staatlicher Strukturen in Ländern wie den USA bereits überschritten zu haben scheint.

Die Preisverleihung des Luise-Büchner-Preises an Anti Schrup findet am 23. November um 11 Uhr in der Orangerie Darmstadt statt.

Zur Person:
Dr. Antje Schrupp: Die 1964 in Weilburg promovierte im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt mit einer Arbeit zur weiblichen politischen Ideengeschichte, übernahm 2001 kommissarisch die Leitung der Evangelischen Öffentlichkeitsarbeit, war Redakteurin
der Zeitung „Frauen unterwegs“ und Mitbegründerin des Online-Forums „Beziehungsweise weiterdenken“. Antje Schrupp lebt in Frankfurt. Sie schreibt Bücher, Essays und Radiobeiträge, sie ist Bloggerin und veröffentlicht ihre Artikel in der Taz, Zeit-Online, Deutschlandfunk Kultur und vielen anderen Medien. Zuletzt sind ihre Bücher „Reproduktive Freiheit. Eine feministische Ethik der Fortpflanzung“ (2022) im Unrast Verlag erschienen, „Schwangerwerdenkönnen. Essay über Körper, Geschlecht und Politik“ (2019) im Ulrike Helmer Verlag. Weitere Titel sind u.a. „Was wäre wenn? Über das Begehren und die Bedingungen weiblicher Freiheit“ und „Methusalems Mütter. Chancen des demografischen Wandels“.

Traditionsabbruch: Studie beleuchtet den Wandel religiöser Sozialisation

Ob Menschen religiös oder nicht-religiös werden, hängt in Zeiten des gesellschaftlichen Rückgangs von Religion nach einer internationalen Studie entscheidend von der Familie ab. Die Studie bestätigt einen massiven Traditionsabbruch, dem die Kirchen nicht einfach entgegenwirken können. Für die Zukunft erwartet Religionssoziologin Christel Gärtner von der Universität Münster einen weiteren kontinuierlichen Rückgang, schlussfolgert aber nicht, dass Religion verschwinden wird. Vielmehr wird sie in bestimmten Milieus und unter spezifischen Bedingungen weiter existieren, erläutert sie im Podcast Conny&Kurt. Die Bedingungen für die Weitergabe innerhalb der Familien werden jedoch schwieriger. Eltern, die ihren Kindern Religion vermitteln möchten, sehen sich manchmal mit Gemeinden konfrontiert, die so konservativ sind, dass sie befürchten, ihre Kinder könnten kein positives Gottesbild entwickeln. Dies birgt das Risiko weiterer Abbrüche.

Für die Kirche formulieren die Forscher:innen der internationalen Studie klare Empfehlungen: Sie müssen Orte bleiben, die Familien integrieren, Vergemeinschaftung und Kreativität ermöglichen und Diskursräume für die Fragen der Jugendlichen bieten, anstatt zu indoktrinieren. Kirchliche Dogmen werden heute kaum noch geglaubt oder verstanden. Das Angebot von Antworten und Räumen für die Reflexion der Adoleszenten wird als entscheidend für die Bindung der jungen Generation an die Kirche angesehen, da auch nicht-religiöse Jugendliche eine Sehnsucht nach solchen Auseinandersetzungsräumen zeigen. Eine theologische oder pädagogische Kompetenz in den Familien erleichtert die Vermittlung von Religion erheblich, da Zusammenhänge besser erläutert und erklärt werden können. Die länderübergreifenden Studie, an der auch Christel Gärtner mitgearbeitet hat, wirft ein Schlaglicht auf den tiefgreifenden Wandel der religiösen Sozialisation in Familien über mehrere Generationen hinweg. Die Untersuchung, die von der amerikanischen John Templeton Foundation gefördert wurde, analysiert die Weitergabe, Veränderung und den Abbruch von Religion in fünf Ländern mit christlichem Hintergrund: Deutschland, Finnland, Italien, Ungarn und Kanada. Die Ergebnisse zeichnen ein Bild eines fortlaufenden Rückgangs religiöser Praxis und Glaubensinhalte, warnen aber auch vor Verallgemeinerungen und zeigen unterschiedliche regionale Dynamiken auf.

Die Studie nutzte einen Mixed-Method-Ansatz, der repräsentative Fragebogenbefragungen und Familieninterviews umfasste, bei denen bis zu drei Generationen an einen Tisch gebracht wurden. Im Zentrum stand die Frage, wie Religion innerhalb von Familien über die Zeit tradiert wird.

Kindheit als Prägephase, Adoleszenz als Reflexionszeit

Ein zentrales Ergebnis ist die unterschiedliche Rezeption von Religion in verschiedenen Lebensphasen. Kinder nehmen demnach die Form der Religion an, die sie in der Familie erfahren, inklusive Glaubensinhalte, Werte und Rituale. Sie äußern sich oft positiv, wenn die Inhalte kindgerecht vermittelt werden. Mit der Adoleszenz setzt jedoch eine kritische Reflexionsphase ein. Jugendliche beginnen, Fragen an den Glauben und die vermittelten Werte zu stellen und entwickeln eine eigene Position.

Der Glaube schwindet, Rituale bleiben selektiv

Die Weitergabe des Glaubens selbst erweist sich als am schwierigsten. Während Werte und das Gefühl der Zugehörigkeit eine hohe Kontinuität aufweisen – mit Ausnahme Ostdeutschlands –, sehen die Forscher bei kirchlichen Praktiken und Glaubensinhalten einen deutlichen Bruch. Erfolgreich ist die Weitergabe von Religion heute vor allem dann, wenn die gesamte Familie an einem Strang zieht und in eine religiöse Gemeinschaft eingebunden ist, was eine Art Familienidentität schafft.

Die Feier des gesamten Kirchenjahres, wie sie in der Großelterngeneration noch präsent war, ist in der dritten Generation kaum noch zu finden. Stattdessen konzentrieren sich religiöse Praktiken oft auf einzelne Rituale und zentrale Feiertage wie Weihnachten und Ostern, die zunehmend als Familienfeste begangen werden. Rituale wie der St. Martins-Umzug existieren zwar weiter, werden aber oft als „Laternenlauf“ entkonfessionalisiert und über Kindergärten oder Schulen initiiert.

Regionale Unterschiede und die Rolle der Kirche

Der Säkularisierungsprozess verläuft nicht überall gleich. In Ostdeutschland war bereits in der Großelterngeneration ein scharfer Abbruch der kirchlichen Bindung festzustellen, der sich in der DDR durch Kirchenverfolgung und antikirchliche Politik massiv verstärkte. Dies führte dazu, dass Familien über Generationen hinweg eine Nichtreligion weitergaben. In Italien hingegen erfolgte dieser Prozess wesentlich später und kontinuierlicher. Finnland zeigt eine Besonderheit mit einer hohen Zahl an Konfirmationen, die oft als kulturelles Ritual wahrgenommen werden, selbst von nicht getauften Jugendlichen, und scheint den Rückgang zu verlangsamen. Kanada liegt dazwischen, mit regionalen Unterschieden, insbesondere in katholischen Gebieten wie Quebec, wo eine frühere Distanz zur Kirche aufgrund strenger Erziehung entstand.

Die Mütter spielen rein statistisch gesehen in allen untersuchten Ländern die wichtigste Rolle bei der Vermittlung von Religion. Diese Rolle nimmt jedoch über die Generationen hinweg ab. Großmütter können eine vermittelnde Funktion einnehmen, insbesondere in der ersten und zweiten Generation, aber ihre Rolle kann den Rückgang der elterlichen religiösen Sozialisation nicht vollständig kompensieren. Enkel erinnern die religiöse Weitergabe durch Großmütter zudem weniger deutlich als die Elterngeneration.

Gärtner, Christel/Hennig, Linda/Müller, Olaf (Hg.) (2025): Families and Religion. Dynamics of Transmission across Generations, Frankfurt a.M./New York. ISBN 978-3-593-51994-4.

Deutschlands Sozialsysteme im Wartestand: Reformstau und politische Ängste

Conny und Kurt diskutieren in ihrem Podcast die politische Lage nach der Sommerpause. Insgesamt betonen sie das Fehlen von politischem Mut zur Umsetzung notwendiger, aber unpopulärer Reformen, da Politiker die Angst vor Wählerverlusten haben. Es fehle nicht an Erkenntnissen, sondern an der Umsetzung.

Der angekündigte „Herbst der Reformen“ oder „der Entscheidungen“ für Deutschlands Sozialsysteme lässt auf sich warten. Obwohl die Sozialkosten nominal steigen, sinkt ihr prozentualer Anteil am Bundeshaushalt, was die These einer Unfinanzierbarkeit (Merz) relativiert.

https://youtu.be/DwSWmyzUB7c

Rente: Boomer-Last und Sparvorschläge

Die Rente steht wegen der in den Ruhestand eintretenden Boomerjahrgänge (ab Jahrgang 1955) vor einer „Schräglage“ im Umlagesystem, die bis etwa 2035 anhalten soll. Diskutiert werden Kürzungen von 10% für Rentner mit höheren Bezügen (ab 1.000 Euro), was als erheblicher Verlust kritisiert wird. Eine weitere Option ist die Koppelung von Rentenerhöhungen an den Inflationsausgleich statt an Lohnsteigerungen. Auch die Verlängerung des Arbeitslebens proportional zur gestiegenen Lebenserwartung (ein halbes Jahr pro zehn Jahre) wird erwogen, idealerweise mit flexiblen Altersgrenzen. Die „Rente mit 63“ gilt als überholt. Politischer Mut zu tiefgreifenden Reformen fehlt, da die 20 Millionen Boomer eine entscheidende Wählergruppe sind.

Gesundheitswesen: Kostenfalle und Kommerzialisierung

Das deutsche Gesundheitswesen wird als „Molloch“ und „Supertanker“ kritisiert, das teuer und ineffizient sei, besonders das Hausarztsystem. Effizientere Strukturen wie Polikliniken oder kommunale Arzthäuser mit kooperierenden Fachärzten werden als Alternativen genannt. Problematisch ist die Kommerzialisierung durch private Investoren, die zweistellige Renditen aus den Krankenkassenbeiträgen ziehen. Eine Wiederverstaatlichung dieser Bereiche wird gefordert, stößt aber auf hohe Abfindungskosten. Gesundheitsminister Lauterbachs Krankenhausreform zur Qualitätssteigerung und Bedarfsdeckung wird grundsätzlich befürwortet, trifft aber auf lokalen Widerstand.

Bürgergeld, Zuwanderung und politischer Mut

Das Bürgergeld macht nur 4% des Sozialhaushaltes aus und dient oft als politisches Instrument zur Spaltung. Gleichzeitig wird das große Potenzial von Zuwanderern als Arbeitskräfte und Beitragszahler für die Sozialkassen durch bürokratische Hürden ungenutzt gelassen.

Trotz bekannter Lösungen fehlt es an politischem Mut und Weitblick. Die Angst vor Einkommensverlusten und Wählerstimmenverlusten führt zu „Flickwerk“ statt echter Reformen. Die Priorisierung von Rüstungsausgaben gegenüber sozialen Belangen verstärkt die allgemeine Unzufriedenheit.

Hoffnungsschimmer nach Washington, Skepsis gegenüber Putins Friedenswillen

Nach den beiden Treffen in Alaska und Washington bleibt die Frage nach einer echten Friedenslösung für die Ukraine offen. Während ein Treffen in Alaska zunächst eine „Schockstarre“ in Europa und der Ukraine auslöste und Befürchtungen eines Rückfalls ins 19. Jahrhundert aufkommen ließ, da Großmächte über das Schicksal kleinerer Länder entscheiden würden, brachte das anschließende Treffen in Washington eine deutliche Korrektur, so die Einschätzung von Andreas von Schumann, stellvertretender Vorsitzender des Deutsch-Ukrainischen Forums im Podcast Conny&Kurt.

Putins Strategie: Zeit gewinnen und Unterwerfung fordern

Andreas von Schumann betont, dass Putin nur unter massivem Druck der USA nach Alaska kam, die mit verschärften Sanktionen drohten. Russland sei gut vorbereitet gewesen und habe direkt „unannehmbare Forderungen“ formuliert, die eine Lähmung des Prozesses zur Folge hatten. Putins Ziel gehe weit über die Ukraine hinaus, und er habe explizit erklärt, keinen Waffenstillstand machen zu wollen, solange er militärische Erfolge verzeichne. Sein Bestreben sei die Vergrößerung Russlands und die Wiederherstellung seiner „alten Blüte“. Russland sei nicht an einer Störung interessiert, sondern möchte in Ruhe weitermachen und setze weiterhin auf Propaganda, um die Einheit Europas zu untergraben.

Ein Waffenstillstand ist die absolute Grundlage für jegliche Verhandlungen. Ohne ihn seien Friedensverhandlungen „völlig absurd“. Die Ukraine könne Forderungen, wie die freiwillige Rückgabe des gesamten Donbas, nicht akzeptieren, da dies den Westen des Landes schutzlos ließe. Russland stelle Forderungen, von denen es selbst wisse, dass sie unannehmbar seien, um den Anschein von Flexibilität zu erwecken, während das eigentliche Ziel die „Unterwerfung“ der Ukraine sei.

Verbindlichkeit und Konsequenzen: Lehren aus der Geschichte

Ein zentrales Thema ist die Verbindlichkeit eines Friedensvertrages und der Schutz der Ukraine vor weiteren Angriffen. Historisch gesehen hat Russland, insbesondere Putin, Verträge immer wieder gebrochen, darunter das Minsker Abkommen und sogar die 2003 und 2004 persönlich von Putin ratifizierten Grenzverläufe zur Ukraine. Die Ukraine war nach dem Zerfall der Sowjetunion die drittgrößte Atommacht der Welt und gab 1994 im Budapester Memorandum ihre Atomwaffen im Tausch gegen Sicherheitsgarantien von Großbritannien, den USA und Russland ab. Während Großbritannien sich weiterhin auf diesen Vertrag beruft, tun dies die USA nicht in gleicher Weise, und Russland hat ihn eklatant gebrochen.

Um einen künftigen Vertragsbruch zu verhindern, müssen die Konsequenzen für Russland „so hoch sein, dass es ineffizient ist, den zu brechen“. In der Vergangenheit war die Schwäche des Westens, der Vertragsbrüche wie die Annexion der Krim nur milde verurteilte, ein Problem. Erst der Abschuss des malaysischen Flugzeugs führte zu ernsthaften Sanktionen.

Die Rolle der USA und Europas

Die USA an Bord zu halten, ist ein „ganz wichtiges Ziel der europäischen Staaten“, da Europa ohne die USA, insbesondere deren Geheimdienstinformationen, nicht verteidigungsfähig ist und die Ukraine nicht unterstützen kann. Während die USA sich auf den pazifischen Raum konzentrieren wollen und militärische Interventionen in Europa vermeiden möchten, fordern die europäischen Staaten ein schnelles Ende des Krieges und die Einhaltung des internationalen Rechts, um weitere weltweite Konflikte zu verhindern.

Diskutiert werden derzeit auch eine „Paragraph 5-ähnliche“ Vereinbarung für Sicherheitsgarantien und eine „Finnland-Lösung“, bei der Finnland Land abtrat, um seine Unabhängigkeit zu bewahren. Diese Diskussionen zielen auf eine Vereinbarung mit sehr hoher Verbindlichkeit ab, auch wenn der NATO-Paragraph 5 selbst nicht so verbindlich ist, wie viele meinen.

Abschließend betont Andreas von Schumann, dass ein „langer Atem“ und „entschlossener Atem“ gefordert sind, da eine schnelle Lösung des Konflikts unwahrscheinlich ist.

Zur Person:

Andreas von Schumann, Stellvertretender Vorsitzender des Deutsch-Ukrainischen Forums.

Das Deutsch-Ukrainische Forum, 1999 gegründet, um Akteure aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft zu vernetzen, hat sich seit 2014 und insbesondere seit 2022 stark auf humanitäre Hilfe und Soforthilfe konzentriert. Ihr Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der Vorbereitung des Wiederaufbaus der Ukraine und der Stärkung der Kooperation zwischen deutschen, europäischen und ukrainischen Unternehmen. Dies beinhaltet die Unterstützung bei der provisorischen Reparatur zerstörter Infrastruktur, aber auch die Förderung wirtschaftlicher Entwicklung und der Schaffung von Einkommen. Das Forum organisiert Reisen für deutsche Unternehmen in die Ukraine und arbeitet eng mit lokalen Institutionen zusammen, um Kontakte zu knüpfen und das große Potenzial der Ukraine, beispielsweise im Bereich Künstliche Intelligenz und Cybersicherheit, zu nutzen.

Der fast vergessene Ehrenbürger: Albert Schweitzer

Sicher hat die Stadt Frankfurt ihren Ehrenbürger Albert Schweitzer nicht ganz vergessen. Nur gesprächsfähig war man nicht. Die Pressesprecherin des Kulturamtes Hanna Immich fand weder im Institut für Stadtgeschichte noch im Historischen Museum einen Interviewpartner:in für den Podcast Conny&Kurt.

Albert Schweitzer hatte eine intensive Beziehung zur Mainmetropole. 1959 erhielt er die Ehrenbürgerrechte der Stadt Frankfurt. Er erhielt außerdem 1928 den Goethepreis der Stadt, sprach 1932 im Opernhaus anlässlich des 100. Todestages Goethes. Ebenso hielt er die Laudatio auf Thomas Mann am 28. August 1949 in der Paulskirche als dieser den Goethepreis in Empfang nehmen durfte. Und ja, er gab in zahlreichen Kirchen Frankfurts Orgelkonzerte und sammelte so für sein Krankenhaus in Lambarene.

Sein Motto „Ehrfurcht vor dem Leben“ bleibt hochaktuell.

Als Pfarrer, Theologe, Mediziner und Musiker war Schweitzer ein Universalgenie. Nach seinen Studien entschied er sich, sein Leben in den Dienst des Nächsten zu stellen, gründete und baute in Lambaréné ein Krankenhaus auf. Sein Alltag dort war eine Synthese aus medizinischer Versorgung, Bauarbeiten und intensiver Gelehrsamkeit; nachts verfasste er dicke Bücher, wie sein Werk über Johann Sebastian Bach. Dieser selbstlose Einsatz entsprang seiner tiefen christlichen Überzeugung und fasziniert bis heute. Übrigens genoss Schweitzer hohe Anerkennung in der DDR, wie Andreas Porzig im Podcast berichtet.

Schweitzers Lehren sind aktuell wie nie. Sein energischer Kampf für die Abschaffung von Atom- und Kernwaffen, die er als völkerrechtswidrig brandmarkte, gewinnt in der heutigen geopolitischen Lage neue Dringlichkeit. Zudem betonte er die Liebe und Nächstenliebe zu allen Menschen. Sein Prinzip der „Ehrfurcht vor dem Leben“ weitete er auf Tiere und Pflanzen aus, was ihn zu einem frühen Vordenker der Nachhaltigkeit und der Klimakrise macht.

Obwohl Schweitzers Präsenz in der Öffentlichkeit nach seinem Tod abnahm, wird sein Erbe weiterhin gepflegt. Das Krankenhaus in Lambaréné ist bis heute medizinisch bedeutsam. Das Albert-Schweitzer-Zentrum in Offenbach bewahrt sein Werk und bietet Dauerausstellungen an. Eine Wanderausstellung ist im September in der Frankfurter Gethsemanekirche geplant. Erst kürzlich wurde ein Albert-Schweitzer-Oratorium in Frankfurt uraufgeführt. Schweitzer bleibt ein Vorbild für authentisches Handeln und persönlichen Einsatz, dessen facettenreiches Leben – musikalisch, theologisch, anekdotisch – zur Auseinandersetzung einlädt.

Altersdiskriminierung und Generationenkonflikt: Soziologe fordert gesamtgesellschaftlichen Brückenschlag

Professor Reimer Gronemeyer, Soziologe, Theologe und Autor des Buches „Die Abgelehnten“, kritisiert, dass Altersdiskriminierung oft unterschätzt wird. Er definiert sie als eine tiefe, gesellschaftliche Benachteiligung, die nicht immer offensichtlich ist. Während die Debatte oft die Jungen zugunsten der Boomer benachteiligt sieht, warnt Gronemeyer vor einem „An den Randschieben“ der Alten, beispielsweise durch unbezahlbare Pflegeheimplätze.

https://youtu.be/2-YSgMcEcF8

Die Gesellschaft sei jugendlich geprägt, wodurch die Alten ihren traditionellen Wert als Träger von Wissen und Erfahrung verloren haben. Die Digitalisierung mache Ältere zu ständigen „Schülern“. Dies führe zu einem immer tieferen Bruch zwischen Jung und Alt, der beiden Generationen schade. Die Vorwürfe der Jugend an die Generation der Babyboomer bezüglich der Klimakrise und des Festhaltens an Führungspositionen seien völlig gerechtfertigt, da „alte weiße Männer“ maßgeblich an den heutigen Krisen beteiligt sind. Dieser Konflikt äußere sich auch in einer „giftigen“ Haltung gegenüber den Alten, da sie als Verursacher und Ressourcenverbraucher wahrgenommen werden.

Gleichzeitig sind traditionelle Begegnungsräume wie Kirchen, Parteien und Nachbarschaften zerbrochen, was zu Einsamkeit und Singularität führt. Die Rentendiskussion, in der sich die Generationen gegenseitig Vorwürfe machen, zeige diesen Gegenläufigen Konflikt deutlich.

Gronemeyer fordert einen gesamtgesellschaftlichen Austausch und betont, dass die Lösung nicht von Kabinetten, sondern von den Bürgern selbst kommen muss. Die Krisen müssten gemeinsam bewältigt werden. Die Kirchen könnten eine Rolle spielen, indem sie sich den wirklichen Nöten und Ängsten der Menschen widmen. Wichtiger sei es, gemeinsame Sehnsüchte zu erkennen und Wege zur Überwindung von Erschöpfung durch Stress zu finden, statt sich gegenseitig zu beschuldigen. Ein Lebensstil mit weniger Geld sollte als Chance begriffen werden.

Entscheidend sei die Wiederbelebung des Alltags durch bürgerschaftliches Engagement, etwa solidarische Landwirtschaft, und das Zurückerobern von Städten, Straßen und Plätzen durch Jung und Alt gemeinsam. Der Verlust lokaler Geschäfte, einst wichtige soziale Treffpunkte, verschärfe die Einsamkeit. Gronemeyer bleibt optimistisch: Es gebe bereits viele aufblühende kleine Gruppen, die alternative Lebensweisen praktizieren und Generationen zusammenbringen. Ziel sei ein intergenerationelles Miteinander, das jeden Einzelnen, unabhängig vom Alter, wertschätzt.

Zur Person
Reimer Gronemeyer studierte zunächst evangelische Theologie. 1971 wurde er mit einer Arbeit zu den Paulusbriefen promoviert und war danach Pfarrer in Hamburg. Danach studierte er Soziologie und wurde 1973 mit einer Arbeit zu Fragen der betrieblichen und gesellschaftlichen Partizipation promoviert.

Seit 1975 ist er Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den Fragen des Alterns in der Gesellschaft.